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Historisches


Wir schreiben das Jahr 2000. Österreich erklärt nach 55-jähriger Besatzungszeit durch die Alliierten eigenmächtig seine Unabhängigkeit. 

Die Weltschutzkommission fliegt sofort herbei, um das Land zur Verantwortung zu ziehen. So geschieht es im Science-Fiction-Film "1. April 2000" aus dem Jahr 1952. Die Utopie hatte einen realen Hintergrund: Man wollte mit diesem Streifen, finanziert von der österreichischen Regierung, den Verhandlungen um die Freiheit des in vier Besatzungszonen geteilten Österreich einen Spin geben. Und wie verteidigt sich das Film-Österreich? Unter Aufbietung aller kultureller Ressourcen, von den Wiener Philharmonikern, den Wiener Sängerknaben, der Spanischen Hofreitschule bis zu Mozart und Johann Strauß. Dazu Wein, Berge, Seen, die glorifizierte Geschichte des Kaiserhauses Habsburg, die Abwehr der Osmanen trotz zweifacher Belagerung Wiens.

Wie definiert sich eine Nation nach dem Horror des Nationalsozialismus? Im Falle Österreichs unter Ausblendung aller Geschehnisse, die dunkle Schatten werfen könnten. Indem die Gräuel der Nazizeit, in der Österreicher federführend an der Tötung von Millionen von Menschen beteiligt waren, einfach verschwiegen werden. Der Film "1. April 2000" möchte suggerieren: Ein Land, das so wunderbare Musik hervorgebracht hat, kann doch nicht böse sein! (Dass man mit diesem Streifen einen von den Nazis hofierten Regisseur beauftragte, steht prototypisch für die Verdrängungsmechanismen dieser Zeit.)

 

Von Anbeginn war Musik und Kunst identitätsstiftend für dieses Land: Schon als Österreich noch ein kleines Babenberger-Herzogtum war, wurde Musik große Bedeutung zugemessen. Die Singer-Songwriter dieser Zeit waren Minnesänger wie Neidhart. Ihm wurde, quasi als erstem österreichischem Musiker-Dichter, an der Südseite des Wiener Stephansdoms ein Ehrengrab errichtet.

 

###phttp://www.hofmusikkapelle.gv.... wurde 1498 gegründet und besteht bis heute. Der Kaiserhof hatte damit Vorbildfunktion: Jeder Fürst wollte mit seinem Orchester prahlen (wie mancher Landeshauptmann heutzutage mit diversen Sommerfestivals). So finanzierten die Fürsten Esterházy eine eigene Hofkapelle, ließen ein Opernhaus bauen und gaben Joseph Haydn die Möglichkeit, sich zum innovativsten Komponisten Europas zu entwickeln.

 

Die sogenannte Klassik kann als erste genuin österreichische musikalische Strömung bezeichnet werden. Damit verbunden sind auch gesellschaftliche Umwälzungen. Das einstige Wunderkind Wolfgang Amadeus Mozart konnte dem verhassten Salzburg den Rücken kehren, weil er ein neues Lebenskonzept fand: das des freischaffenden Künstlers. Ein Konzept, das neu war, denn kapitalistische Strukturen waren im Musikbusiness noch nicht stark ausgeprägt. Es gab wenige für jedermann zugängliche Konzerte, das Urheberrecht war löchrig, Verlage begannen sich erst zu profilieren. Das Geld kam für die meisten Musiker noch immer vom Adel. Auch der aus Bonn stammende Ludwig van Beethoven wurde in Wien von vier adeligen Gönnern mit einem jährlichen Gehalt unterstützt.

Mit Beethoven tritt das Einzigartige des schaffenden Genies in den Mittelpunkt. Dessen Werke sind die Botschaft des Komponisten und wurden nicht geschaffen, um einem Fürsten zu schmeicheln. Ab jetzt musste alles neuartig sein: Manche Beethoven-Werke sind so irrwitzig anders als alles, was davor komponiert worden ist, dass sie noch heute zu irritieren vermögen (etwa die späten Streichquartette oder die Hammerklavier-Sonate, die als unspielbar galt).

 

Franz Schubert steht für das Biedermeier und den Rückzug ins Private – auch ausgelöst durch den strengen Überwachungsstaat des Staatskanzlers Metternich mit seinem Zensur- und Spitzelwesen, der Unterdrückung von Presse- und Meinungsfreiheit. Schubert hat mit seinen erschütternden Liederzyklen so etwas wie frühe Konzeptalben gestaltet. In ihrer existenziellen Kraft sind sie der ideale Soundtrack für den Post-break-up Coffee (wie ihn der österreichische Liedermacher Bernhard Eder 2012 mit seinem gleichnamigen Album besang). Todessehnsucht verbunden mit einem bis ins Schmerzhafte gehenden Ausdruckswillen – das sind durchaus Eigenschaften, die österreichische Musik weiter prägten, ob in den Symphonien von Gustav Mahler, in den morbiden "Dunkelgrauen Liedern" des Sängers und Schauspielers Ludwig Hirsch oder in den düsteren Songs von Soap&Skin. Mit tagesaktuellen Couplets in Theaterstücken konnte man oftmals die Zensur umgehen - in vielen Fällen wurden sie zu Gassenhauern und können als Vorläufer der Dialektwelle des Pop der 1970er Jahre angesehen werden.

Zu Schuberts Zeiten wurde damit begonnen, Volkslieder systematisch zu sammeln. Die formalen Eigenarten hielten sich über die Jahrhunderte – im oberösterreichischen Raum etwa die meist spöttischen "Gstanzln", in der Hauptstadt das larmoyante, todessehnsüchtige Wienerlied. Durch Ensembles wie das Quartett der Gebrüder Schrammel erlebte diese Kunstform Ende des 19. Jahrhunderts einen Höhenflug. In jüngster Zeit wurden diese traditionsreichen Genres von Bands wie Attwenger und 5/8erl in Ehr'n weiterentwickelt und mit Punk und Hip Hop aufgefrischt.

 

Im 19. Jahrhundert eroberte sich das Bürgertum das Feld der Musik, Musikvereine und Konservatorien entstanden. Virtuosen und Walzer-Könige wurden zu den ersten internationalen Popstars der Musikbranche: Bei Auftritten des im Burgenland geborenen Franz Liszt gab es Ohnmachtsanfälle, Johann Strauß reiste mit seinem Orchester bis nach Russland und Amerika. Die Lust am Feiern pompöser Feste übernahm man von der Aristokratie – noch heute gilt der Wiener Opernball in Society-Kreisen als das gesellschaftliche Ereignis des Jahres und wird live im Fernsehen übertragen.

 

Das musikalische Können der Bildungsbürgerschicht war beachtlich, man setzte sich ans Klavier, um Opern und Symphonien im Klavierauszug durchzuspielen. Fertigkeiten, die noch heute vielen Musikerinnen und Musikern der österreichischen Pop-Szene dienlich sind, denn viele haben schon als Kinder Tonleitern geübt.

 

Um die Wende zum 20. Jahrhundert formierte sich im kulturell prosperierenden Wien eine Gruppe, die einen Keil zwischen konservative und aufgeschlossene Hörer trieb: Die Zweite Wiener Schule um Arnold Schönberg. In sein erstes atonales Werk baute Schönberg die Melodie von "Oh, du lieber Augustin!" ein, das als erstes Wienerlied galt – ein Zeichen dafür, dass er sich nicht in der Rolle des Umstürzlers sah (trotz einiger Skandalkonzerte mit Prügeleien im Publikum). Die freie Atonalität war ihm zu vage, er suchte ein neues Ordnungssystem und fand es in der um 1920 entwickelten Zwölftontechnik.

 

Nach dem Ersten Weltkrieg war die Zeit des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn vorbei, der im Westen bis zur Schweiz, im Süden bis zur Adria, im Norden bis zum Deutschen Reich und im Westen bis Russland reichte. Das geschrumpfte Österreich der Ersten Republik musste sich erst zurechtfinden, in den meisten Parteien gab es Stimmen, die einen Anschluss an Deutschland forderten. 1920, eineinhalb Jahre nach Kriegsende, wurden die Salzburger Festspiele gegründet – auch mit dem Hintergedanken der Förderung einer neuen österreichischen Identität mit starker Rückbesinnung auf die Tradition und der Hoffnung auf ein gemeinsames Europa. Touristische Erwägungen spielten ebenfalls eine Rolle bei diesen "Olympischen Spielen der Kunst" (Stefan Zweig).

 

In der Zwischenkriegszeit florierten Revuetheater und Kabaretts (1923 gab es in Wien 25 Theater und 18 Varietés). Die Operette verlor bei steigender Popularität ihre ursprünglich gesellschaftskritische Kraft – schließlich konnte sie in die Unterhaltungs-, Ablenkungs- und Propagandamaschinerie der Nationalsozialisten eingegliedert werden, vorher musste man nur mit Urkundenfälschung die Hinweise auf Johann Strauß' jüdischen Großvater tilgen. Die oftmals jüdischen Librettisten wurden auf Programmzetteln einfach unterschlagen.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg musste sich Österreich als Staat abermals neu definieren. Man tat das mit hemmungslosem Rückgriff auf Klischees und Mythen. Die intellektuelle Avantgarde war vertrieben oder ermordet; in den Schulen unterrichteten Lehrer, die Erziehungsprinzipien der Nazizeit weiterführten; Vertriebene wurden nicht aktiv eingeladen, zurückzukehren, dafür übernahmen nach einer Phase der Entnazifizierung historisch belastete Künstler wichtige Posten.

 

Wien war grau in grau, die meisten Lokale schlossen früh. Einige Künstlergruppen begannen gegen diesen Nachkriegs-Mief aufzubegehren. Um den Dialektdichter HC Artmann formierte sich die revolutionäre Wiener Gruppe. Die Wiener Aktionisten sorgten für eine Durchlüftung der Kunstszene – und das mit größtem persönlichem Einsatz: Ihre Körper-Kunst ging bis zur Selbstverletzung mit Rasierklingen. Auch sonst waren sie gefährdet: Die legendäre Aktion "Kunst und Revolution" (vom Boulevard "Uni-Ferkelei" getauft) brachte einigen Beteiligten Gefängnisstrafen ein. Günther Brus ging nach Deutschland ins Exil, um der Inhaftierung wegen "Herabwürdigung der österreichischen Staatssymbole" zu entgehen (er hatte während der Aktion defäzierend die Bundeshymne gesungen).

 

Im Klassikbereich herrschte unter der glänzenden Karajan-Oberfläche Aufbruchsstimmung: Nikolaus Harnoncourt machte in Wien mit seinem Concentus Musicus ab 1953 Alte Musik wieder spannend und initiierte eine Welle der Historischen Aufführungspraxis. Das Ensemble die reihe war 1958 eines der weltweit ersten Ensembles für zeitgenössische Musik. Man brachte allerneueste Klänge nach Wien, das Publikum quittierte das zunächst bei einem Konzert mit akkordiertem Trillerpfeifen-Einsatz. Das kehrte sich bald um: Festivals wie Wien Modern zogen ein Avantgarde-freundliches Publikum an, für zu tonale Werke gab es noch in den 1990er Jahren Buhs. Mittlerweile ist das Verhältnis entspannter. Eine neue Generation von zeitgenössischen Komponisten geht genauso gerne zu House-Nächten in den Club Flex wie ins Konzerthaus.

 

In der sogenannten Unterhaltungsmusik fand nach dem Krieg zunächst keine Revolution statt, die großen Plattenfirmen setzten nicht auf Eigenständiges, sondern auf Schlager und abgemilderte Versionen des Rock'n'Roll und der Beat-Musik (etwa in den Filmen von Peter Alexander). Ausnahmen waren die Bambis mit ihrem internationalen Hit "Melancholie". Aktuelles kam über die Jukeboxen dunkler Vorstadtlokale und einen Kabarettisten unters Volk: Helmut Qualtinger sang über den "G'schupften Ferdl" und machte sich damit über die rüpelhaften Manieren unterer sozialer Schichten beim Tanz lustig – ein Topos, der schon von den Minnesängern des Mittelalters aufgegriffen worden war. In den ersten Jahren der Beatlemania fand Pop eher als Kuriosum Eingang in die österreichischen Massenmedien, junge Männer mit langen Haaren mussten mit spontanen Ohrfeigen empörter Passanten rechnen.

 

Durch den Einfluss der Literaten der Wiener Gruppe entstand eine Welle an Dialekt-Pop. Die Initialzündungen: Die Worried Men Skiffle Group vertonte ein Gedicht des Wiener Gruppe-Autors Konrad Bayer, Marianne Mendt sang "Wia a Glock'n", getextet vom Kabarettisten Gerhard Bronner und komponiert vom Jazzer Hans Salomon (mit Joe Zawinul Mitbegründer der Austrian All Stars). Und schließlich stürmte der 19-jährige Wolfgang Ambros mit seinem morbiden Lied über eine Leiche im Gemeindebau die Charts – eine satirische Abrechnung mit der Mär vom "Goldenen Wienerherz". Der Startschuss war erfolgt, der sogenannte Austropop florierte.

 

Die Sprachspiele der Wiener Gruppe inspirierten auch Hansi Hölzl alias Falco zu seinem multilingualen Sprechgesang – der wohl einzige wirkliche Pop-Star, den Österreich je hervorgebracht hat. Sein "Rock me Amadeus" von 1985 war das bislang einzige deutschsprachige Lied an der Spitze der US-Billboard-Charts und der UK Top 40.

 

Seinen qualitativen Höhepunkt erlebte der Austropop Anfang der 1980er Jahre, verflachte aber zusehends. Bewusst dagegen gesetzt entwickelte sich eine Alternativkultur, die vom Punk und New Wave gespeist war. Einige Protagonisten der Elektronik-Szene der 1990er Jahre hatten ihre musikalischen Wurzeln in dieser New-Wave-Szene. Mit Austropop-Aufgüssen war außerhalb Österreichs nichts zu holen, aber mit Techno-Produktionen konnten heimische Künstlern international reüssieren. Kruder & Dorfmeister machten mildere Sounds für kurze Zeit zum Alleinstellungsmerkmal einer vielfältigen Wiener Szene: Das Genre "Downbeat" eroberte von Wien aus die Welt, mit der 1993 erschienenen EP "G-Stoned" als Eisbrecher.

 

Das Genre wurde schnell auf den Café-Compilations dieser Welt zu Tode gespielt, die Techno-Szene wurde härter und Laptop-Musiker eroberten sich ein experimentelles Feld. Dafür gab es ein Publikum, das geneigt war, auch in Noise-Regionen zu folgen – für schwierige Avantgarde-Musik gab es ja in Wien eine gewisse Tradition. Der einstige Gitarrenrocker Christian Fennesz reiste mit Musik, die unter Clicks & Cuts subsumiert wurde, von einem internationalen Festival zum nächsten.

 

Mit dem (im Grunde heterogenen) Wiener Sound wurde Österreich erstmals zum Pop-Exporteur. Die damaligen Label-Strukturen haben sich zum Teil erhalten, neue sind hinzugekommen, von steirischen Kassetten-Labels bis zu international vernetzten Beat-Schmieden. Das alles scheint den jüngsten Boom an spannenden Musik-Projekten nachhaltig zu machen. Leben können davon zwar noch immer die wenigsten Pop-Artists, aber für viele ist die Stunde gekommen, sich musikalisch zu verwirklichen. Die Voraussetzungen dazu sind in Österreich – abseits der unbeweglichen Großlabels – so gut wie schon lange nicht.

Autor: Rainer Elsner